Ute H.
Sie hat mit 50 Jahren noch lesen gelernt.
Ein schöner Nachmittag sieht für Ute H. so aus: „Ich lese meiner Enkelin eine Seite vor und sie liest die nächste, immer abwechselnd. Das konnte ich mit meiner Tochter nicht machen.“ Denn Ute H. hat in der Schule nicht richtig lesen und schreiben gelernt. Das hatte viele Gründe. Ihr Vater war gewalttätig und alkoholkrank. Ihre Lehrer haben sich nicht richtig interessiert. Eine Erzieherin, die sie sehr mochte, ist früh gestorben. In Deutsch und Mathe hatte Ute H. immer schlechte Noten. Trotzdem hat sie nach acht Schuljahren einen Abschluss gemacht.
Beruflich hat sie sich durchgeschlagen. Ihr Chef in der Großküche wusste, dass sie nicht gut lesen und schreiben kann. Ihm war das egal. Ihre Kolleginnen und Kollegen aber tuschelten. Wenn sie zur Bank ging, wickelte sie sich einen Verband um den Arm, damit der Angestellte die Überweisung ausfüllt. Niemand merkte, dass sie es selber nicht konnte. „Ich ging immer angespannt durchs Leben“, sagt sie heute.
„Oma, kann es sein, dass du nicht lesen kannst?“
Ihren ältesten Enkelsohn konnte sie aber nicht täuschen. Wenn er mit einem Buch kam und sie vorlesen sollte, hat sie sich einfach eine Geschichte ausgedacht. Irgendwann hat er direkt gefragt: „Oma, kann es sein, dass du nicht lesen kannst?“ Da ist bei Ute H. ein Knoten geplatzt. Sie hat beim Jobcenter gefragt, ob sie einen Kurs machen kann. Mit über 50 Jahren hat sie lesen und schreiben gelernt. Heute versteckt sie sich nicht mehr. Sie erzählt am ALFA-Mobil und in der Zeitung, warum manche Menschen nicht richtig lesen und schreiben können. Sie möchte diesen Menschen Mut machen.